Günter Grass – 2014
über Günter Grass
Günter Grass, geboren am 16. Oktober 1927 in Danzig, war deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker. Er war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, im Jahr 1999 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Grass studierte Bildhauerei, zunächst an der Düsseldorfer Kunstakademie, dann an der Hochschule für Bildende Künste Berlin. 1956 erschien sein erster Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“ sowie das Drama „Die bösen Köche“. Ab 1955 nahm er regelmäßig an den Tagungen der Gruppe 47 teil und erhielt 1958 den Preis der Gruppe. 1959 wurde Grass mit seinem Roman „Die Blechtrommel“ schlagartig berühmt.
Es folgten zahlreiche weitere Romane („Hundejahre“, „örtlich betäubt“, „Der Butt“, „Die Rättin“ und „Ein weites Feld“ u.a.), Lyrikbände („Gleisdreieck“, „Ausgefragt“, „Letzte Tänze“ u.a.), Novellen („Katz und Maus“, „Im Krebsgang“), Erzählungen („Das Treffen in Telgte“, „Unkenrufe“, „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, „Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus“, „Mein Jahrhundert“), Dramen („Hochwasser“, „Onkel, Onkel“, „Noch zehn Minuten bis Buffalo“, „Die Plebejer proben den Aufstand“) und autobiographische Werke („Beim Häuten der Zwiebel“, „Die Box“, „Grimms Wörter“)
Gruppenbild mit Grass
von Vera Podskalsky und Timo Sestu
Grimms Wörter
Eine große Liebeserklärung an die deutsche Sprache erweckt schnell das Interesse von Germanisten, vor allem, wenn der Liebende auch noch ein Literaturnobelpreisträger ist. Die Möglichkeit, ebendiesen höchstpersönlich zu treffen, konnte man sich nicht entgehen lassen! Zumal er in all den Jahren auch schon gute Erfahrungen mit Philologen gemacht hatte. Aber alles der Reihe nach… schön sortiert, fast wie in einem Wörterbuch. Und damit und indem wir unserer Erzählskizze folgen, sind wir dem großen Literaten schon dicht auf der Spur.
Ein weites Feld
Namentlich handelt es sich, die Zwischentitel verraten es schon, um Günter Grass, der mit seinem Debütroman „Blechtrommel“ schlagartig zu einem bedeutenden Schriftsteller avancierte. Sein Werk hat seither sowohl gesellschaftlich als auch in der Literaturkritik polarisiert. Ein weites Feld galt es also zu beackern, um den Künstler Grass zwischen den Polen ausfindig zu machen: Als unerbittlicher Chronist deutscher Geschichte, der Zeit der „Hundejahre“, wurde Günter Grass hohe Anerkennung zuteil. „Vergegenkunft“ forderte er. Was er damit meinte, ist die adäquate Erinnerung an die Vergangenheit, eine Vergegenwärtigung der Geschichte, um eine Wiederholung der Gräuel des Dritten Reiches zu verhindern.
In vielen Reden und Essays hat er sich mit dem Schreiben nach Auschwitz auseinander gesetzt und das Bild seiner durch den Holocaust tief erschütterten Generation gezeichnet. Theodor W. Adornos Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, diente Grass gleichzeitig als Angriffspunkt und Folie für das eigene Schreiben. Immer wieder erhob – und erhebt – Grass die Stimme. Für sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ beispielsweise erntete er allerdings heftige Kritik. Seine Stellungnahme zur israelischen Politik wurde im Feuilleton überwiegend negativ besprochen. Das in drei großen Tageszeitungen veröffentliche Gedicht sorgte schließlich sogar dafür, dass über Grass ein Einreiseverbot nach Israel verhängt wurde.
Der inzwischen 86-Jährige blickt auf ein ereignisreiches Leben und ein umfassendes Oeuvre zurück. Neben seinen literarischen Arbeiten sind das auch Zeichnungen und Skulpturen. Günter Grass ist – wie er auch selbst immer betont – gelernter Zeichner und Bildhauer. Die Arbeit an seinen Romanen wird stets durch bildkünstlerische Arbeiten begleitet, etwa durch Lithografien oder Aquarelle.In seiner Werkstatt in Behlendorf, wo er – wie er uns später erzählen wird − auch heute noch täglich arbeitet, entstehen gleichsam Texte und Bilder, die in ihrer Motivik eng verflochten sind.
Im Krebsgang
Bevor wir Grass persönlich begegnen, nähern wir uns dem Künstler im Krebsgang, dem schnellen Rückwärtsseitgalopp, der einen indirekten Weg zum Ziel nimmt. Das Günter Grass-Haus in Lübeck scheint dazu perfekt geeignet. Das dort ansässige Museum fordert zur Auseinandersetzung auf einer Meta-Ebene auf: In einem Museum kann die Identität eines Menschen freilich kaum gänzlich erfasst werden. Grundsätzlich steht der Besucher einer Auswahl gegenüber, die, intendiert oder nicht, eine bestimmte Perspektive auf die Person nahelegt – dessen ist er sich aber sehr häufig gar nicht bewusst.
Jörg-Philipp Thomsa, der junge Leiter des Museums setzt mit seinem Konzept genau hier an: Im ersten Ausstellungraum begegnet uns der „Schreibtisch des Kurators“. Auf der Arbeitsplatte stehen verschiedene thematische Annäherungen an die Person Günter Grass, von denen vier Bereiche im Museum besonders gewichtet sind: Der politische Künstler, Grass‘ zeichnerisches Werk, die Skandale um seine Veröffentlichungen und natürlich der Nationalsozialismus und seine Folgen.
Innovativ ist, dass der Besucher die Möglichkeit hat, für den fünften Ausstellungsbereich, der jährlich erneuert wird, eigene Themen einzusenden, die dann auf einem großen Touch-Screen zur Abstimmung gestellt werden. Das Günter Grass-Haus, das betont Thomsa immer wieder, arbeite nämlich wissenschaftlich unabhängig. So ist es möglich, dass in der nächsten Dauerausstellung, die am 18. Oktober dieses Jahres eröffnet wird, der Soldat Günter Grass im Fokus steht.
Beim Häuten der Zwiebel
Wenn unsere Anhängerschaft zumutbare Grenzen überschritte, würden uns sicher die Tränen in die Augen steigen, als wir Grass‘ Arbeitszimmer in Lübeck betreten. Immerhin sind wir an das Innere der Zwiebel gelangt. Die Schale haben wir mit dem Museum ein Stockwerk unter uns gelassen. Und obwohl wir die Fassung bewahren, können wir, immerhin seriöse Literaturwissenschaftler, den Arbeitsbüchern und Handskizzen, die wir nun ungestört durchblättern können, eine gewisse auratische Ausstrahlung nicht absprechen.
In seinem Lübecker Büro empfängt Grass allerdings sonst eher unliebsame Journalisten, denen der Adelsschlag einer Einladung nach Behlendorf nicht vergönnt ist. Seine Sekretärin, Hilke Ohsoling, ist diejenige, die den Raum hauptsächlich nutzt. Und als sie, auf einer Holztreppe sitzend, in ihrer auffällig beruhigenden Art von der ersten Begegnung mit dem prominenten Arbeitgeber berichtet, entsteht ein in sich homogenes Bild, man hat den Eindruck, sie gehöre in den Raum wie niemand anderes.
Das Treffen in Telgte
Das Treffen in Telgte ist es nicht ganz – aber in einer ähnlich einmaligen Situation befinden wir uns, als unser vier Meter hoher und ohnehin für alle Belange viel zu großer Reisebus am Rand eines kleinen abschüssigen Weges im Nirgendwo hält. Fast hätte das Treffen zu platzen gedroht, da Grass etwas angeschlagen ist, er selbst hat allerdings gegenüber seiner Sekretärin vehement dafür plädiert, dass wir ihn trotzdem besuchen. Fast ein wenig ehrfürchtig betreten wir den Hof, als ein kleiner Mann in gebückter Haltung aus der Tür tritt; gleich hinter ihm, Minka, seine Hündin. Ein wenig schüchtern folgen wir dem Schriftsteller in seine Werkstatt und suchen uns zwischen hohen Bücherregalen und Schreibpulten einen Platz.
„Und wie läuft das Ganze jetzt? Werde ich mit Fragen durchlöchert?“, fragt Grass lachend und erzählt dann einleitend von seiner Werkstatt, berichtet beispielsweise, dass er nur im Stehen schreibt. Dann haben wir Gelegenheit zum Fragen, möchten unter anderem Näheres über sein Verhältnis zu Text und Bild erfahren. Auch wenn wir einige Antworten bereits aus früheren Interviews kennen, macht es Freude zu sehen, wie der Schriftsteller sichtlich Spaß daran hat, uns mit Anekdoten zu versorgen.
Er erzählt, wie er sozusagen ausversehen die Novelle „Katz und Maus“ geschrieben hat, und dass Oskar aus der „Blechtrommel“ aus einem von Grass zuvor verfassten „schrecklich epigonalen Gedicht“ hervorging: Hier macht sich der Protagonist zum Säulenheiligen, indem er sich auf eine selbst gemeißelte Säule stellt und in steinerner Pose erstarrt. Oskar sollte es dann genau umgekehrt machen und beschließen, nicht mehr zu wachsen. Fortan würde er – in Umkehrung des Motivs – seine Welt von unten betrachten.
Zum Abschluss liest Grass noch das lange Gedicht „Kleckerburg“. Und spätestens als er, trotz Krankheit wild gestikulierend, das erste „Blubb, pfff, pschpsch…“ verlauten lässt, wird klar, dass Diskussionen über die Aura eines Künstlers nicht von ungefähr entstehen. Am Ende unseres Besuches versuchen wir diese Stimmung einzufangen, indem wir unsere Bücher mit Unterschriften versehen lassen und alles fotografisch dokumentieren. Grass, Student mit Grass, Grass und die Gruppe, sein Garten, seine roten Socken. Minka, sein Hund, freundlich hechelnd.
Günter Grass verabschiedet sich, wir stehen noch eine Weile im Hof und irgendwie erscheint es uns, als wären wir Bestandteil eines Videos, das die Unterschrift „Unveröffentlichtes Archivmaterial“ trägt.